19. Auf freiem Fuß

Die Tür der Verwahrzelle öffnet sich schwungvoll. Das grimmige Gesicht eines Beamten erscheint. Hildburg erkennt den Einsatzleiter der Gruppe, der sie in dieser Nacht verhaftet hat. Kommense raus, bellt er. Mobs hört ihn nicht. Mit geschlossenen Augen, aus denen die Tränen strömen, schreitet er würdig von Zellenwand zu Zellenwand. Steeeern, auf den ich schaaaaaue. Staaaab, an dem ich geeeeh, Füüüührer, dem ich tra-haue, Feeeels, auf dem ich steeeeeh … Was er in diesen Minuten erlebt, wird er selbst später als Epiphanie bezeichnen. Für den Beamten steht etwas anderes fest. Der ist ja noch völlig besoffen, sagt er. Außerdem hat sich für ihn niemand gemeldet. Der bleibt bis morgen früh hier. Aber sie haben Glück, wendet er sich an Hildburg. Ein Anwalt hat sich gemeldet, für sie und ihre … Freunde. Das letzte Wort spuckt er Hildburg förmlich vor die Füße. Da sieht sie auch schon die Gesichter der anderen hinter dem Beamten. Hildburg nimmt Mobs schützend in den Arm. Der kommt mit, sagt sie, sonst bleib ich auch hier. Hildburg! Pirkers empörte Stimme hallt aus dem Flur. Lass den evangelikalen Spinner in Ruhe und komm da raus! Er kommt mit! entgegnet Hildburg noch einmal, ihre Stimme nimmt einen etwas schrillen Klang an. Also gut, dann nehmen sie diesen Schwachkopf mit, schnauzt der Polizist, und dann brüllend zum immer noch singenden Mobs: Und halt jetzt endlich dein Maul!

Mobs Gesang verstummt schlagartig. Preisdenherrn! murmelt er, Halleluja, danke, Jesus! Hildburg hakt ihn unter. Jetzt sei ruhig, zischt sie, sonst behalten sie uns hier. Benommen, stellenweise humpelnd und völlig erschöpft schleppt sich die Gruppe den Flur entlang, die Treppen hinauf zu den Büros, vorbei an den diensthabenden, missmutig dreinblickenden Beamten. Wo ist Johnny? fragt Hildburg plötzlich in die Stille. Im Krankenhaus, sagt Ivo leise. Arschlöcher, sagt Hildburg laut. Sei ruhig! Ivo quetscht die Worte so durch die Zähne, dass man sie kaum verstehen kann. Sei jetzt einfach noch ein paar Meter ruhig. Hildburg denkt nicht dran. Das hat ein Nachspiel, ruft sie den Polizisten zu. Dafür kriegen wir euch dran! Die Angesprochenen verziehen keine Miene. Selber schuld, sagt schließlich einer mit einem angedeuteten Grinsen. Er hat sich bei der Festnahme gegen die Autotür geworfen. Das war eine absichtliche Provokation, um uns willkürliche Gewaltanwendung vorzuwerfen. Steht alles im Bericht, damit kommt er nicht durch. Jetzt grinsen noch ein paar Beamte mehr. Sie werden alle dicht halten. Mobs schaut Benno ins Gesicht, aber der wendet seinen Blick schnell ab und vertieft sich in ein Dokument auf seinem Computer-Monitor. Mach’s gut, Benno, sagt Mobs mit einer Stimme, die einen mahnenden Unterton hat. Hmm? erwidert Benno, als würde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt werden. Mehrere Kollegen schauen ihn unverwandt an. Jaja, ich sag Uschi Bescheid, dass du kommst, sagt er dann und greift zum Telefon. Danke, sagt Mobs, dann treten die Linken und er auf die Straße. Hinter den Häusern im Osten verfärbt sich der Nachthimmel bereits grau. Ein neuer Tag bricht an.

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